Kommentar |
Der unter den Zeichnungen von Schloß Wilhelmsthal herausragende Aufrißentwurf, der jeweils eine Hälfte der Garten- und eine Hälfte der Hofseite zeigt, liegt zeitlich vor der Grundsteinlegung des Corps de Logis im Jahr 1753. Der Zeichenduktus verbindet das Blatt mit einem Teilaufriß des gartenseitigen Mittelrisalits (Marb. Dep. 12), einem Schnitt durch das Treppenhaus aus dem Marburger Depositum (Marb. Dep. 13a) und einem Teilaufriß des hofseitigen Mittelrisalit in der Kunstbibliothek Berlin (Hdz 4144/63; Frank 1989, S. 194; Bleibaum 1932, S. 41f. u. Abb. 23). Bei der Ausführung des zwischenzeitlich getrennten Blattes (Wolf 1967, S. 62, Anm. 86) wurde auf plastische Akzente bewußt verzichtet; die Zeichnung entstand nach einer Teilvorzeichnung in Graphit allein unter Verwendung einer Feder. \nAuf der linken Blattseite ist die Gartenfassade ausgeführt worden, die gemäß den Gestaltungsvorschriften für eine "maison de plaisance" reicher ausgestattet sein mußte als die bedeutungsschwächere Hoffassade. Die wesentlichen Konstruktionsmerkmale finden sich jedoch an beiden Fassaden wieder. Über einem relativ hohen Sockel, der eine gute Belichtung des Souterrains gewährleisten sollte, erhebt sich der zweigeschossige Baukörper mit Mansarddach. Entgegen dem üblichem Schema bei einer "maison de plaisance" ist das Obergeschoß und nicht das Erdgeschoß als Hauptgeschoß ausgeführt worden. Die besondere Geländesituation in Wilhelmsthal, die durch die Tallage des Corps de Logis charakterisiert ist, macht diesen Tausch notwendig. Um vom Park aus eine Schauwirkung zu erzielen, gestaltete François de Cuvilliés eine breitgelagerte Gartenseite mit dreiachsigem Mittelrisalit, der bis in das Mansardgeschoß hochreicht und erst auf Höhe des Dachfirstes von einem Dreiecksgiebel abgeschlossen wird. Der Höhenerstreckung dient auch eine besondere Treppenführung im Bereich des Mittelrisalits. So wurde der Zugang zum Garten nicht mittels einer Freitreppe vorgenommen (s. Simon Du Rys Studienentwurf) und damit das Kellergeschoß verdeckt, sondern geschwungene Treppen werden seitlich direkt in den Mittelrisalit geführt. Sein Vortreten um eine Achse macht den Anschluß der breiten Treppe mit der entsprechenden Maueröffnung an dieser Stelle möglich. Damit bleibt die Aussicht vom Souterrain auf den Garten unverstellt erhalten. Für eine Verbreiterung der Gartenseite sorgen die eingeschossigen Altane, die auf der Zeichnung der Hofseite durch die Galeriebauten verdeckt sind (Schmidt-Möbus 1995, S. 29f.).\nEntsprechend der Bedeutung der verschiedenen Geschosse werden diese auch dekorativ verschieden gewichtet. Sind die Fenster im Erdgeschoß rechteckig mit einem Sturz in Agraffenform versehen, so erhalten diejenigen im Obergeschoß eine Segmentbogenform und zusätzlich zu dem Scheitelornament unter den Sohlbänken einen Konsolschmuck mit dazwischengehängten Festons. Eine Steigerung erfolgt jeweils im Bereich des Mittelrisalits entsprechend der für die "maison de plaisance" vorgegebenen Mittelachsenbetonung. Hier zeigen die rundbogigen Fenstertüren im Obergeschoß durch ihre Balkoneinbindung eine von schmiedeeisernen Balustern hervorgehobene Zone. Im Untergeschoß sind die dekorierten Rundbogenstürze mit weiblichen Büsten geschmückt. Der Risalit erfährt im folgenden eine dekorative Steigerung bis zum Mansardgeschoß, das mit drei ovalen, von Palmwedeln und Akanthuslaub umkränzten Ochsenaugen versehen ist. Der bekrönende Dreiecksgiebel zeigt eine bekrönte Kartusche für das landgräfliche Wappen mit Trophäenrahmung. \nEin ähnlicher Aufbau findet sich auch an der Hofseite. Im Gegensatz zur Gartenfassade werden hier jedoch die Eckrisalite stärker betont, indem sie sich durch Segmentbogentüren im Erdgeschoß und Rundbogenfenster im Obergeschoß dem Gliederungsmodus des Mittelrisalits anschließen. Der Mittelrisalit selbst nimmt im Erdgeschoß das Hauptportal auf, zu dem eine vorgelagerte Freitreppe führt. Den Eingang flankieren vier ionische Säulen mit dahinter gelagerten ionischen Pilastern, die den schmalen Balkon des Obergeschosses tragen. Gemäß dem hierarchischen Säulenordnungssystem sind darüber vier korinthische Pilaster angeordnet. Der mittlere Fenstersturz geht direkt in eine gekrönte, von Palmwedeln flankierte Wappenkartusche über. Den Abschluß bildet ein Sprenggiebel, der von zwei Putten mit Vase bekrönt wird. Auf die Gemeinsamkeit dieses Motivs, das dem strengen Reglement der französischen Architekturtheorie zuwider läuft, mit der Fassadengestaltung der von Cuvilliés entworfenen Amalienburg im Nymphenburger Schloßpark und der des Schlosses Haimhausen wies bereits Bleibaum hin (Bleibaum 1932, S. 43). In gleicher Weise gestaltete Cuvilliés auch die Fassade seines ersten Entwurfs für das von Kurfürst Clemens August in Auftrag gegebene Schloß Falkenlust bei Brühl (Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, Hdz 4144/82; Gamer 1966). Wie an der Wilhelmsthaler Hoffront stößt auch hier die Wappenkartusche in den Giebel des Mittelrisalits, dessen eigenständige Überdachung mit zwei seitlich angeordneten Ochsenaugen verziert ist. \nZwischen dem vorliegenden Entwurf und dem Baubestand lassen sich einige Abweichungen feststellen. So ist hofseitig der Sprenggiebel zugunsten einer strafferen Gliederung weggefallen, die eine deutliche Trennung zwischen Obergeschoß und Mansarde vornimmt. Die Ochsenaugen im Dachbereich des Mittelrisalits sind größer und mit sparsamer Rahmung ausgeführt worden. Zudem zeigen sie sich, vermutlich um eine Wappenkartusche zu rahmen, in aufrechter Position. Weiterhin ist die Portalgestaltung beim Bau verändert worden, indem statt der gerade abschließenden Tür mit reicher Ausschmückung eine stichbogige Tür in ein mittleres Interkolumnium ionischer Ordnung eingepaßt ist. Im Kellergeschoß fehlt im Entwurf noch der vorgelagerte Lichtschacht. Eine Brüstungsmauer mit liegenden Sphingen ist mit einer Außentreppe verbunden, die nicht wie später ausgeführt zu den Galerieverbindern führt, sondern zu einer in die Seitenrisalite des Corps de Logis eingelassenen zusätzlichen Tür (Schmidt-Möbus 1995, S. 137). Vor diesem Hintergrund ist Schmidt-Möbus beizupflichten, die, entgegen der von Braunfels und Wolf vorgenommenen Bestimmung des Blattes als Ausführungsentwurf, hierin vielmehr einen Alternativentwurf sieht. \nAls ausführenden Künstler des qualitativ hochwertigen Blattes betrachtete die ältere Forschung noch François de Cuvilliés selbst (Hallo 1930/2, S. 80; Braunfels 1938, S. 77f.; Wolf 1967, S. 62f.; Frank 1989, S. 195). Bei der fehlerhaften Beschriftung des Fassadenrisses ("Cotez" statt "Coté" und "Elles" statt "Ailes"), auf die Rudolf Hallo erstmals hingewiesen hatte (Hallo 1930/2, S. 70), gingen Braunfels und Wolf von der nachträglichen Beschriftung einer fremden Hand aus, während Bleibaum und Dittscheid eine fehlerhafte Beschriftung durch Cuvilliés in Betracht zogen (Bleibaum 1932, S. 61; Dittscheid 1983, S. 685). Als Vertreterin der jüngsten Wilhelmsthal-Forschung erwägt Friederike Schmidt-Möbus aufgrund der Zugehörigkeit der Berliner Zeichnung zum Nachlaß des Cuvilliés-Schülers Charles Albert von Lespilliez auch dessen Autorschaft und versucht diese These durch eine Analyse der Zeichentechnik zu begründen (Schmidt-Möbus 1995, S. 138-143). Dabei besteht das Grundproblem, wie Schmidt-Möbus einleitend auch anmerkt, in der unsicheren Zuschreibung originaler Cuvilliés- und Lespilliez-Zeichnungen. Durch den stilistischen Vergleich der vorliegenden Fassadenentwürfe mit Entwürfen des Kasseler Komödienhauses im Staatsarchiv Marburg, die Cuvilliés ziemlich sicher zugeschrieben werden können, gelingt es Schmidt-Möbus, Unterschiede aufzuzeigen, die sie zu der Einschätzung führen, daß es sich bei dem vorliegenden Blatt um einen begabten Zeichner handelt, der Cuvilliés Ideen "kongenial zu Papier bringen oder kopieren konnte" (Schmidt-Möbus 1995, S. 141). Aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit Cuvilliés sind Leveilly, Lespilliez und Cuvilliés jun. mögliche Kandidaten, wobei Schrift und Zeichenstil Leveilly jedoch von vorherein ausschließen. Von Cuvilliés jun. und Lespilliez ist bekannt, daß sie die französische Sprache nicht perfekt beherrschten, so daß beide für die fehlerhafte Beschriftung auf dem Fassadenriß in Frage kommen. Die hohe Qualität der Zeichnung spricht jedoch eher gegen Cuvilliés jun., da dieser zum Entstehungszeitpunkt der Zeichnung noch sehr jung war (Schmidt-Möbus 1995, S. 141). Nach dem Vergleich von Zeichnungen und Schriftproben der hier zur Diskussion stehenden Künstler läßt sich abschließend urteilen, daß vieles für Lespilliez als ausführenden Künstler des vorliegenden Blattes spricht. Da jedoch nur wenig eindeutig zu bestimmendes Material vorliegt, kann eine absolut sichere Zuschreibung nicht erbracht werden. |